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Der Pharma-Brief 3/2022 widmet sich folgenden Themen:

Resistente Keime im Schlachthofabwasser
Greenpeace findet Resistenzen gegen Reserveantibiotikum Colistin

Über das Abwasser aus deutschen Schlachthöfen gelangen resistente Keime in die Umwelt. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Untersuchung der Umweltschutzorganisation Greenpeace. Weiterlesen

Deutschland forciert Brain Drain
Abwerbung von Pflegekräften aus dem globalen Süden

Die Corona-Pandemie hat den Pflegenotstand im deutschen Gesundheitssektor noch verschärft und die Abwerbung von Fachkräften aus dem weit entfernten Ausland forciert. Doch gerade in armen Ländern fehlt es häufig an Pflegepersonal. Die größten Lücken gibt es auf dem afrikanischen Kontinent, in Südostasien und in einigen Ländern Lateinamerikas. Weiterlesen

WTO „Patent Waiver“:
Ein Ende mit Schrecken?

Ein Konsens der Welthandelsorganisation (WTO) über die Aussetzung von Patenten in der Covid-19-Bekämpfung soll laut Presseberichten im März näher gerückt sein. Weiterlesen

HIV und TB-Programme: Ausgebremst durch Covid
Solide Finanzierung des globalen Fonds ist dringend nötig

Covid-19 hat die Kontrolle von HIV und Tuberkulose (TB) um Jahre zurückgeworfen, schätzt die WHO. Zwei AktivistInnen aus Indonesien und Kenia schildern, was das für die Betroffenen bedeutet. Um das verlorene Terrain wieder wettzumachen, müssten die Anstrengungen jetzt deutlich vergrößert werden. Dazu braucht es unter anderem eine solide Finanzierung des Globalen Fonds. Im Herbst steht die nächste Wiederauffüllungskonferenz an. Weiterlesen

Wissenschaftsverband AWMF auf Abwegen
Medizinische Dachorganisation der Fachgesellschaften redet Interessenkonflikte klein

Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und ihre Mitgliedsorganisationen nehmen wichtige Aufgaben war. Sie erstellen Behandlungsleitlinien und stellen bei Anhörungen zu neuen Arzneimitteln im Gemeinsamen Bundesausschuss die meisten ExpertInnen. Die AWMF hat kürzlich gleich
zwei Papiere verfasst, die eine kritische Auseinandersetzung mit kommerziellen Interessen in der Medizin in Frage stellen. Weiterlesen

Peru: Aufholbedarf bei Kinder-Impfungen
Masern und Polio-Immunisierung wegen Covid vernachlässigt

Auch im zweiten Pandemiejahr erhielt nur die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren eine Grundimmunisierung gegen Masern und Polio. Das peruanische Gesundheitsministerium ist bemüht, die Lücke mit Hausbesuchen zu schließen, doch das Budget für das Impfprogramm wurde gekürzt. Weiterlesen

Aus aller Welt 
WHO-Stiftung verzichtet auf Prinzipien 
Mehr Transparenz gefordert 
Österreich: Die Geiss als Gärtnerin? 

Download: Pharma-Brief 3/2022 [PDF/666kB] 


Covid-19 offenbart tiefe Versorgungslücke

Die Covid-19-Pandemie geht weltweit mit enormen psychischen Belastungen einher: Social Distancing, Isolation, Furcht vor Ansteckung oder erlebtes Leid im näherem Umfeld. Auch finanzielle Sorgen gelten als Stressfaktor.[1] Weltweit führte das zu einer Zunahme psychischer Erkrankungen. Vor allem während des ersten Pandemiejahres haben schwere depressive Störungen und Angststörungen um rund 25% zugenommen, meldete die Weltgesundheitsorganisation WHO.[2] Junge Menschen und auch Frauen seien besonders häufig betroffen. Außerdem gebe es Hinweise auf ein erhöhtes Suizid-Risiko – vor allem in der Altersgruppe der 20 bis 25jährigen. Menschen mit mentalen Vorerkrankungen trügen außerdem ein höheres Risiko für schwere Krankheitsverläufe und Tod durch COVID-19. Bei den Beschäftigten im Gesundheitswesen sei Erschöpfung ein wesentlicher Auslöser für Selbstmordgedanken.[3]

Heikle Versorgungslage

Doch nur eine Minderheit der Menschen mit psychischen Problemen werde behandelt und die Pandemie habe diese Behandlungslücke sogar noch vergrößert. Denn 2020 reduzierten viele Dienste für psychische und neurologische Erkrankungen ihre Hilfsangebote und noch immer sind viele Beratungs- und Serviceangebote unterbrochen. Kein anderer wesentlicher Bereich im Gesundheitssektor sei global so schwer beeinträchtigt worden, so die WHO. „Die Informationen, die wir jetzt über die Auswirkungen von COVID-19 auf die psychische Gesundheit der Welt haben, sind nur die Spitze des Eisbergs“, warnte Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus. „Dies ist ein Weckruf an alle Länder, der psychischen Gesundheit mehr Aufmerksamkeit zu schenken und die psychische Gesundheit ihrer Bevölkerung besser zu unterstützen.“[2] 

Schon vor der Pandemie mangelte es vor allem im globalen Süden an  psychiatrischen und psychologischen Fachkräften. So kommt im ostafrikanischen Kenia nur ein Psychiater auf eine halbe Million Menschen.[4] In reichen Ländern wie Deutschland sind es dagegen rund 115.[5] Die Pandemie habe zwar das Interesse und die Sorge um die psychische Gesundheit geweckt, sagt Dévora Kestel, Direktorin der Abteilung für psychische Gesundheit und Substanzgebrauch bei der WHO, „aber sie hat auch gezeigt, dass in der Vergangenheit zu wenig in psychosoziale Dienste investiert wurde. Die Länder müssen dringend handeln, um sicherzustellen, dass die Unterstützung für psychische Gesundheit für alle verfügbar ist.“[2]  (CK) 

Artikel aus dem Pharma-Brief 2/2022, S. 7
Foto © Jesse Awalt/Flickr

[1] Shuyan L et al. (2021) Globale Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Der Nervenarzt

 https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s00115-021-01068-2.pdf [Zugriff 9.3.2022]

[2] WHO (2022) Mental Health and COVID-19: Early evidence of the pandemic’s impact. 2 March https://www.who.int/publications/i/item/WHO-2019-nCoV-Sci_Brief-Mental_health-2022.1 [Zugriff 6.3.2022]

[3] WHO (2022) COVID-19 pandemic triggers 25% increase in prevalence of anxiety and depression worldwide. 2 March https://www.who.int/news/item/02-03-2022-covid-19-pandemic-triggers-25-increase-in-prevalence-of-anxiety-and-depression-worldwide [Zugriff 6.3.2022]

[4] Simmank J (2018) Psychisch krank, allein und vergessen. https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2018-10/kenia-afrika-psychisch-kranke-psychiater-behandlung-stigmatisierung?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.1d5920f4b44b27a802bd77c4f0536f5a-gdprlock%2F [Zugriff 9.3.2022]

[5] Mugglin C et al. (2021) Dringend nötig: ein globaler Blick auf psychische Erkrankungen. Schweizerische Ärztezeitung https://saez.ch/article/doi/saez.2021.20113 [Zugriff 9.3.2022]

 

 

 


Wechselwirkungen und mangelnde Kontrolle

HIV-Infizierte haben ein um 30% höheres Risiko, schwer an Corona zu erkranken oder daran zu sterben.[1] Das gilt besonders für Menschen, die keinen Zugang zu HIV-Medikamenten haben und deren Immunsystem stark geschwächt ist. Trotzdem gehen beim Zugang zu Impfstoffen gerade HIV-Schlüsselgruppen häufig leer aus. Wechselwirkungen zwischen beiden Pandemien sind offensichtlich und sollten mehr Aufmerksamkeit bekommen.

Die COVID-19 Pandemie hat den Zugang zu HIV-Testung und Behandlung, aber auch zu Präventionsangeboten deutlich erschwert. Bereits im vergangenen Jahr warnte der UNAIDS-Report vor wachsender Ungleichheit infolge von SARS-Cov-2 und dass bei der Pandemiekontrolle niemand zurückgelassen werden dürfe.[2] So sind rund 800.000 Kinder weltweit HIV-positiv und werden nicht mit den für sie lebenswichtigen antiretroviralen Medikamenten behandelt. Doch auch bei der Corona-Impfung gehen Kinder und Jugendliche zumeist leer aus, weil die Impfstrategien vieler Länder diese Altersgruppe noch gar nicht erfassen.[3] Südafrika zählt zu den wenigen Ländern des afrikanischen Kontinents, die den Biontech-Impfstoff für die Altersgruppe der 12-17jährigen zugelassen haben.

34 Länder meldeten der WHO auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie im Sommer 2020 Unterbrechungen bei ihren Versorgungsangeboten im Bereich sexuell übertragbarer Krankheiten.

Corona verschärft Ungleichheiten und Zugangsprobleme

Eine effektive Pandemie-Kontrolle wäre bei HIV und COVID gleichermaßen entscheidend für die globale Gesundheit. Denn es gibt Wechselwirkungen zwischen beiden Krankheiten. Vieles spricht etwa dafür, dass die sich derzeit ausbreitende Omikron-Variante während einer längeren Erkrankung bei einer Person mit einem geschwächten Immunsystem entstanden ist. Weil die stark mutierte Variante erstmalig im südlichen Afrika auftrat, ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie der HIV-Pandemie zu verdanken ist, schrieb unlängst das British Medical Journal.[4] HIV ist in der Region eine häufige Ursache für Immundefekte, etwa acht Millionen der 60 Millionen EinwohnerInnen Südafrikas leben mit HIV.

Bei vielen der in Südafrika neu diagnostizierten Fälle ist die HIV-Infektion bereits weit fortgeschritten und das Immunsystem ist extrem anfällig. Viele dieser Menschen haben schon einmal eine Therapie begonnen, sind aber nicht in ständiger Behandlung oder haben die Behandlung abgebrochen. Gründe dafür sind zum einen Armut und Stigmatisierung der Betroffenen, aber auch unbezahlbare Kosten der Behandlung oder ein schlechter Zugang zu psychischen Diensten. COVID-19 hat diese bestehenden Herausforderungen noch verschärft und den Zugang zu HIV-Tests und zur Routineversorgung HIV/Aids-Infizierter weiter verschlechtert.

Viele immungeschwächte Personen haben sich deshalb mit dem Corona-Virus angesteckt – also Menschen, die einerseits ein höheres Risiko für langwierige Infektionen haben und andererseits eher Träger von Mutationen sind. Umso wichtiger wäre es, weltweit den Zugang zu allen Aspekten der Gesundheitsversorgung zu verbessern und somit beide Pandemien effektiv zu bekämpfen, betonen die AutorInnen des BMJ. „Der nächsten besorgniserregenden Variante sollte man durch eine Erhöhung der Impfquoten in Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Immunitätsniveau und hoher Immunschwäche vorbeugen, anstatt sie erst dann zu bekämpfen, wenn sie in einem wohlhabenden Land auftritt.“[3]

HIV-Aktivismus bietet reichen Erfahrungsschatz für die Covid-Bekämpfung

Zugleich müsse man die sozialen Determinanten von Gesundheit – einschließlich Diskriminierung und Stigmatisierung – stärker in den Blick nehmen. Davon würde die Bekämpfung von HIV ebenso profitieren wie die von SARS-Cov-2. Schließlich biete gerade das Erbe des erfolgreichen südafrikanischen HIV/Aids-Aktivismus einen großen Erfahrungsschatz, was menschenrechtsbasierte Handlungsansätze und ein starkes zivilgesellschaftliches Engagement auf Gemeindeebene angeht. Die Stärkung und Integration solcher Akteure sei beim Zugang zu Impfung, Diagnostik und Behandlung in armen Ländern von großer Bedeutung.

 Die Treatment Action Campaign hat mit ihren Aktionen entscheidend dazu beigetragen, dass Südafrika heute das weltweit größte HIV-Behandlungsprogramm hat.

Eine aktuelle Untersuchung zu den Effekten von COVID-19 auf die HIV-Kontrolle bei Sexarbeiterinnen in Indonesien stützt diese These.[5] Das nationale HIV-Programm verzeichnete von Februar bis Mai 2020 bedingt durch Corona massive Engpässe. HIV-Tests und damit auch die Anzahl neu begonnener Behandlungen gingen bei SexarbeiterInnen laut offizieller Angaben um 83-94% zurück. Vielfach wurden jedoch auf lokaler Ebene zusätzliche Testangebote geschaffen und bereits im Juli lag die Zahl der durch Basisgesundheitsdienste auf Gemeindeebene erreichten KlientInnen wieder auf Vor-Corona-Niveau oder sogar darüber. „Es scheint, dass die Effekte der Pandemie auf das nationale HIV/Aids-Programm durch die kontinuierliche Arbeit von Organisationen der Zivilgesellschaft auf kommunaler Ebene abgefedert wurden.“, schlussfolgern die AutorInnen.

Integrierter Ansatz ist nötig

Die Wechselwirkungen zwischen HIV und COVID-19 weiterhin im Blick zu behalten, ist dringend geboten. Es gilt, die globale HIV-Bekämpfung zu stärken und zu verbessern und zugleich die anhaltende Covid-19-Pandemie einzudämmen – durch gezielte Testung und Impfung von Menschen mit HIV und anderen immungeschwächten Personen. Dazu ist u.a. eine Neuausrichtung bei Test- und Präventionsstrategien unerlässlich und auch ein integrierter Ansatz, um auf beide Erkrankungen angemessen reagieren zu können. (CJ)

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 2/2022, S.2
Abbildung Countries reporting on ARV disruptions due to Covid-19 © WHO
Bild Treatment Action Campaign Aktion © TAC

[1]WHO (2021) WHO warns that HIV infection increases risk of severe and critical COVID-19. www.who.int/news/item/15-07-2021-who-warns-that-hiv-infection-increases-risk-of-severe-and-critical-covid-19 [Zugriff 10.3.2022]

[2] UNAIDS (2021) Confronting inequalities. Global Aids Update.  www.unaids.org/en/resources/documents/2021/2021-global-aids-update [Zugriff 10.3.2022]

[3] K. Govender, P. Nyamaruze, N. McKerrow (2022) COVID-19 vaccines for children and adolescents in Africa: aligning our priorities to situational realities. BMJ Global Health
2022;7:e007839. doi:10.1136/bmjgh-2021-007839

[4] J. Freer, V. Mudaly (2022) HIV and covid-19 in South Africa. The two pandemics must be confronted collectively and globally. BMJ 2022;376:e069807
http://dx.doi.org/10.1136/bmj-2021-069807, published: 27 January

[5] R. J. Magnani, D. N. Wirawan, A. Agung et al. (2022) The short term effects of COVID-19 on HIV and AIDS control efforts among female sex workers in Indonesia. BMC Women’s Health 22:21 https://doi.org/10.1186/s12905-021-01583-z


Schwangere und Mütter sind aggressiver Werbung ausgesetzt

Über die Hälfte aller Schwangeren und Mütter werden von den Herstellern von Muttermilchersatzprodukten massiv umgarnt. Zu diesem Fazit kommt ein Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des Kinderhilfswerks UNICEF, der die Marketingpraktiken der 55 Milliarden US$ schweren Nahrungsmittelindustrie beleuchtet. Bewusst verzerren die Firmen wissenschaftliche Fakten, um Frauen vom Stillen abzuhalten und den Verbrauch von Ersatzprodukten anzukurbeln.[1]

Bereits 1981 hatte die Weltgesundheitsversammlung ein bahnbrechendes Abkommen verabschiedet, um Mütter vor den Marketingpraktiken der Babynahrungsindustrie zu schützen: Mit einem internationalen Kodex wurden Standards gesetzt und klare Empfehlungen zur Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten, Flaschen und Saugern gemacht.[2] Der Kodex sollte die aggressive Werbung für Baby-Milchpulver stoppen und eine angemessene Ernährung von Säuglingen und Kleinkindern fördern. Jahrelange Kampagnen gesundheitspolitischer Organisationen (darunter der BUKO Pharma-Kampagne) und Boykotte gegen den Nahrungsmittelkonzern Nestlé waren dem vorausgegangen. Die Schweizer Firma stand damals bereits seit Jahren als „Baby-Mörder“ am Pranger, weil sie mit aggressiver Werbung viele Mütter in armen Ländern dazu verleitet hatte, künstliches Baby-Milchpulver statt Muttermilch zu verwenden. Über die Risiken von mangelnder Hygiene und verschmutztem Wasser wurden die Frauen jedoch nicht aufgeklärt. Die Folge: Tausende Babys starben an Durchfall und anderen Krankheiten.[3]

Kodex gegen unethische Werbepraktiken

Muttermilchersatzprodukte sollen zur Verfügung stehen, wenn sie nötig sind, aber nicht öffentlich beworben werden – so fordert es der Kodex. Werbeanzeigen sind demnach ebenso untersagt wie die Abgabe von Produktproben. Auch Produktinformationen dürfen nur in Fachkreisen verbreitet werden. Zwar haben sich alle UN-Mitgliedstaaten bereits vor 40 Jahren dazu verpflichtet, diese Regeln zu implementieren. Doch noch immer liegt beim Thema Säuglingsnahrung vieles im Argen. Der WHO/UNICEF-Report führt das einmal mehr vor Augen, sein Titel: „Wie die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten unsere Entscheidungen über die Ernährung von Säuglingen beeinflusst“.[4]

Der Bericht deckt systematische und unethische Marketingstrategien auf und stützt sich dabei auf Interviews mit Eltern, schwangeren Frauen und Gesundheitspersonal in Bangladesch, China, Mexiko, Marokko, Nigeria, Südafrika, Großbritannien und Vietnam. 8.500 Mütter und Schwangere sowie 300 Gesundheitsfachkräfte wurden insgesamt befragt. In Großbritannien gaben 84% der befragten Frauen an, der Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten ausgesetzt gewesen zu sein. In Vietnam waren es 92% und 97% in China. Die Untersuchung  mache deutlich, „dass die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten nach wie vor unannehmbar weit verbreitet, irreführend und aggressiv ist“, schlussfolgert Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor der WHO.[1]

Ausgefeiltes Marketing behindert das Stillen

Zu den Marketingtechniken der Industrie zählen unregulierte und geschickte Online-Werbung, gesponserte Beratungsnetzwerke, Telefon-Hotlines, Werbeaktionen und kostenlose Geschenke aber auch verschiedenste Praktiken zur Beeinflussung des Gesundheitspersonals. Die Werbebotschaften sind oft irreführend, wissenschaftlich nicht fundiert und verstoßen eindeutig gegen den internationalen Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten. „Falsche und irreführende Botschaften über die Ernährung mit Säuglingsnahrung sind ein wesentliches Hindernis für das Stillen, von dem wir wissen, dass es das Beste für Babys und Mütter ist“, sagt UNICEF-Exekutivdirektorin Catherine Russell. Um Frauen vor unethischen Marketingpraktiken zu schützen, brauche es dringend eine solide Politik und Gesetzgebung, aber auch Investitionen in das Stillen und eine unabhängige Beratung.

In allen untersuchten Ländern äußerten die Frauen den starken Wunsch, ausschließlich zu stillen, wobei die Spanne von 49% der Frauen in Marokko bis zu 98% in Bangladesch reicht. Der Bericht zeigt jedoch auch, wie ein anhaltender Strom irreführender Werbebotschaften das Vertrauen der Frauen in ihre Fähigkeit, erfolgreich zu stillen, untergräbt. Zu den häufig kolportierten Mythen zählt die Notwendigkeit von Zusatznahrung in den ersten Tagen nach der Geburt, die Behauptung, dass die Qualität der Muttermilch mit der Zeit abnehme oder dass Säuglinge mit künstlicher Babymilch länger satt bleiben.

Weltweit werden nur 44% der Säuglinge unter 6 Monaten ausschließlich gestillt. Die Stillraten sind in den letzten zwei Jahrzehnten nur geringfügig gestiegen, während sich der Absatz von Säuglingsnahrung in der gleichen Zeit mehr als verdoppelt hat. Vor allem in der Europäischen Region der WHO ist die aggressive Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten besorgniserregend. Von allen WHO-Regionen hat Europa die niedrigsten Raten ausschließlichen Stillens.[5] Dabei bietet das Stillen nachweislich einen wirksamen Schutz gegen alle Formen der Unter- oder Fehlernährung von Kindern. Stillen ist außerdem die erste Impfung für Babys und schützt sie vor vielen häufigen Krankheiten.

Gesundheitspersonal vor den Karren gespannt

Eine große Anzahl an Gesundheitsfachkräften in allen Ländern war von den Herstellern kontaktiert worden – sei es, um Werbegeschenke oder kostenlose Proben an Mütter abzugeben, an gesponserten Veranstaltungen und Konferenzen teilzunehmen oder sogar um sie durch Provisionen für ein verkaufsförderndes Verhalten zu gewinnen. WHO und UNICEF fordern daher ein generelles Verbot für MitarbeiterInnen im Gesundheitswesen jedwede Zuwendung von den Herstellern von Nahrungsergänzungsmitteln anzunehmen oder an gesponserten Fortbildungen und Veranstaltungen teilzunehmen. Und auch in vielen anderen Bereichen sei internationales und staatliches Handeln gefragt: Investitionen in Maßnahmen und Programme zur Unterstützung des Stillens seien ebenso notwendig wie ein angemessen bezahlter Elternurlaub.  (CJ)

 

Artikel aus dem Pharma-Brief 2/2022, S. 1

[1]WHO, UNICEF (2022) More than half of parents and pregnant women exposed to aggressive formula milk marketing. News v. 22.2.22. www.who.int/news/item/22-02-2022-more-than-half-of-parents-and-pregnant-women-exposed-to-aggressive-formula-milk-marketing-who-unicef [Zugriff 9.3.2022]

[2]WHO (1981) International code of marketing of breast-milk substitutes. https://apps.who.int/iris/handle/10665/40382 [Zugriff 9.3.2022]

und WHO (2017) The International Code of Marketing of Breastmilk Substitutes. Frequently asked questions (update) https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/254911/WHO-NMH-NHD-17.1-eng.pdf

[3]SRF (2016) Nestlé und sein Milchpulver: Eine Erfolgs- und Leidensgeschichte. www.srf.ch/news/wirtschaft/nestle-und-sein-milchpulver-eine-erfolgs-und-leidensgeschichte [Zugriff 9.3.2022]

[4] WHO, UNICEF(2022) How the marketing of formula milk influences our decisions on infant feeding. www.who.int/publications/i/item/9789240044609 [Zugriff 9.3.2022]

[5]WHO-Regionalbüro für Europa (2022) Neue Studie der WHO fordert dringend Ende der aggressiven Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten, die vom Stillen abhalten. News vom 23.Februar www.euro.who.int/de/health-topics/disease-prevention/nutrition/news/news/2022/2/new-who-research-urges-an-end-to-aggressive-formula-milk-marketing-that-discourages-breastfeeding [Zugriff 9.3.2022]

 


Der Pharma-Brief 2/2022 widmet sich folgenden Themen:

Babynahrungshersteller vereiteln das Stillen
Schwangere und Mütter sind aggressiver Werbung ausgesetzt

Über die Hälfte aller Schwangeren und Mütter werden von den Herstellern von Muttermilchersatzprodukten massiv umgarnt. Zu diesem Fazit kommt ein Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des Kinderhilfswerks UNICEF, der die Marketingpraktiken der 55 Milliarden US$ schweren Nahrungsmittelindustrie beleuchtet. Bewusst verzerren die Firmen wissenschaftliche Fakten, um Frauen vom Stillen abzuhalten und den Verbrauch von Ersatzprodukten anzukurbeln. Weiterlesen

HIV und Covid-19
Wechselwirkungen und mangelnde Kontrolle 

HIV-Infizierte haben ein um 30% höheres Risiko, schwer an Corona zu erkranken oder daran zu sterben. Das gilt besonders für Menschen, die keinen Zugang zu HIV-Medikamenten haben und deren Immunsystem stark geschwächt ist. Trotzdem gehen beim Zugang zu Impfstoffen gerade HIV-Schlüsselgruppen häufig leer aus. Wechselwirkungen zwischen beiden Pandemien sind offensichtlich und sollten mehr Aufmerksamkeit bekommen. Weiterlesen

Zähes Ringen um Impfstoff-Patente 
Tödliches Spiel auf Zeit

Seit Monaten wird international um die Freigabe von Patenten in der Covid 19-Bekämpfung gerungen, mittendrin die deutsche Ampel-Regierung. Sie setzt den Blockadekurs der Großen Koalition fort. Zeitgleich unterminiert eine mit Biontech verbandelte Stiftung die Arbeit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Impfstoffproduktion in Afrika. Weiterlesen

Psychische Krankheiten nehmen weltweit zu
Covid-19 offenbart tiefe Versorgungslücke 

Die Covid-19-Pandemie geht weltweit  mit enormen psychischen Belastungen  einher: Social Distancing, Isolation,  Furcht vor Ansteckung oder erlebtes  Leid im näheren Umfeld. Weltweit  führte das zu einer Zunahme psychischer Erkrankungen. Vor allem während des ersten Pandemiejahres haben schwere depressive Störungen und Angststörungen um rund 25% zugenommen, meldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Weiterlesen

Aus aller Welt

  • USA: Opioid-Streit beigelegt
  • Brasilien: Staat muss zahlen
  • Astrazeneca: Finanzbericht 2021
  • Moderna teilt mit Afrika

Download: Pharma-Brief 2/2022 [PDF/1.708kB] 


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